2023/03/12

weglächeln

Knapp ein Jahr hilft mir nun jemand, durch mich selbst zu navigieren. Und es gibt gute Gründe damit noch ein ganzes Stück Weg weiterzugehen. Und es ist immer wieder schockierend was ich dabei so ausgrabe. 

Irgendwann vor ein paar Wochen fiel es mir wieder einmal ein. Ich hab irgendwie gemerkt dass ich mich "instantan schäme". Darüber dass ich das so weit verdrängt habe über all die Jahrzehnte. Dass ich nicht einmal weiß was eigentlich die Vorgeschichte gewesen war. Und dabei ist das gar nicht das schlimme daran. 

Es gibt ein schwarz-weiß-Foto von mir. Ich bin da drauf zu sehen. Vielleicht vier Jahre alt, ich weiß es nicht, ich habe weder das Foto noch je mehr darüber erfahren als die "lustige Anekdote" dazu, die sich in dieser Familie und anderen gegenüber dazu immer erzählt wurde. Auf dem Foto sieht man mich heulen, mit Schokoglasur-verschmiertem Mund, in einer der kleinen Hände ein Schweineohr haltend. Es fehlt bereits ein Kindermund-großer Biss, meine verheulten Blicke gehen nach oben, irgendwohin außerhalb des Bildes, dahin wo die andere Hand sich streckt. Der lustige Teil davon ist, dass ich nach dem Schweineohr meiner Mutter oder meines Vater zu greifen deute, heulend vor Enttäuschung, dass dieses nicht für mich zu haben sei. Soweit, meine Erinnerung darüber.

Ehrlich gesagt würde ich das Foto gar nicht haben wollen. Es ist eines von so vielen Puzzlestücken, die mir lange nicht weh haben tun können, weil ich das Narrativ der lustigen Erzählung so verinnerlicht habe. Kann sein, dass ich neulich morgens auf dem Markt am Bäckerwagen welche habe liegen sehen und ein paar Augenblicke dran hängen geblieben bin. 

Was mir so unfassbar schwer fällt, ist dahinter zu schauen. Hinter diese Fassade des Weglächelns durch die der Witz seine Schenkelklopferhaftigkeit bekommen hat. Was hat das in mir ausgelöst damals, warum habe ich so gefühlt, dass mir die Tränen runterkullern, ich heulen musste? Was hat mir da so wehgetan, was habe ich da wieder als Schmerz, Entzug, Verlust gefühlt? Auch wenn ich darauf wohl nie eine Antwort finden werde, viel erschreckender ist diese innerfamiliäre Negierung dieses herausgeschrienen Bedürfnisses. Es gab nie einen Moment wo diese - meine - Seite der Anekdote je eine Rolle gespielt hätte. Es war eine tolle Geschichte die zu dem Foto allen unter die Nase gerieben werden konnte - "wie lustig, so gierig der kleine, hat nicht mal das eine fertig und heult wegen dem was gar nicht für ihn ist". Es ist so unfassbar erschreckend, dass ich mir Jahre später den "Schweineohr-Effekt" vorwerfen lassen musste - jedes verdammte Mal wenn ich gegenüber meinen Eltern ein Bedürfnis habe deutlich machen wollen. Heftig wieviel Erniedrigung da drin transportiert werden konnte. Diese Abwertung, Reduzierung auf eine frühkindliche Momentaufnahme um sich keinesfalls ernsthaft mit mir beschäftigen zu müssen. Was mir das alles kaputt gemacht hat, wieviel Scherben da in mir rumliegen...

Das mag lächerlich vorkommen, kleinlich, unwesentlich, "sowas gab's halt überall" - allein es nimmt nichts davon was es mit mir gemacht hat.

Und das ganze war keine Ausnahme. Vielleicht weil es dazu ein Foto gab, womit man das so verletzend jederzeit wieder rausholen konnte. So sehr dass ich irgendwann angefangen habe diese Erinnerung quasi anzunehmen und trotzdem ganz weit unten drunter zu vergraben. Unter dem beschissenen Berg auf dem ich sitze und den ich gerade erneut durchlebe. Es ist anstrengend, genau dahin zurückzukehren, in diese Momente auch wenn ich endlich jemanden habe, der einem zeigt, dass das was ich damals nicht als Obhut, als Schutz bekam, mir heute selbst geben kann.

Auch wenn ich heute arg zu kämpfen hatte beim einkaufen. Es war nicht viel los, ich habe etwas vor mich hingeträumt. Ein bisschen gestöbert was es so an pflanzlichen Alternativen bei den Joghurts und Sahne-Zeugs so gibt - und dann stand da Buttermilch. Ich mochte die noch nie. Also, ich hätte mir die nie gekauft. Ich hätte die auch nie probiert, mich hat der Geruch schon immer unangenehm berührt, auch damals. Ich war vielleicht fünf, maximal sechs Jahre alt. Und aus irgendeinem Grund sollte ich ein Glas Buttermilch trinken. Die ich nicht mochte. Wahrscheinlich war das eine der vermeintlichen Möglichkeiten, aus dem schmächtigen Kind "was zu machen". Das war wohl mal ein Thema damals, dass ich lange sehr klein und kaum kräftig entwickelt war. Darum soll es jetzt nicht gehen - über alles damit verbundene hab ich schon zu oft mit Wut an früher zurückgedacht. Was macht man also mit einem Kind, das sein Glas Buttermilch nicht trinken mag?

Man sperrt es auf den Balkon mit dem Glas. Mit der klaren Ansage, dass es erst wieder in die Wohnung zurück kehren dürfe, wenn das Glas ausgetrunken wurde. Da es meinen Eltern irgendwann zu langweilig wurde, mich durch das Glas der Balkontür aus der Küche heraus zu beobachten, habe ich irgendwann den Inhalt in einen der Blumenkästen entleert. Was natürlich durchschaut wurde und mir der Weg zurück verwehrt wurde - mit einem erneut gefüllten Glas und der gleichen Auflage. Und zur vollständigen Erniedrigung wurde da auch noch der Krug mit der restlichen Buttermilch auf den Tisch gestellt - wenn es mir dann schmecken würde, könne ich gerne noch mehr trinken. An Zynismus ist das ganze nicht zu überbieten gewesen. Es war am Ende dann schon dunkel als ich den Inhalt irgendwie Schuck für Schluck runterbekommen hatte. In dem Krug schwammen mittlerweile ein, zwei Fliegen wie als Beweis für die Abscheulichkeit dieses unangenehm riechenden Zeugs - ich fühlte mich mindestens genauso elend wie die beiden. 

All das ist so lange her - aber erst jetzt kann ich ernsthaft darüber so fühlen und dem auch Raum geben wie es damals einfach nicht sein durfte. Und das schlaucht einfach mehr als 300km mit dem Rad. Es ist wahnsinnig kräfteraubend, tut weh, setzt Wut frei - mich so zu fühlen wie damals. Um dann mit viel Atmen mir selbst das Mitgefühl und die Anteilnahme zu geben, die ich damals nicht bekam.

Über all dem schwebte dann über viele Jahre zudem noch die verhöhnende Aussage "Du hast ja eine sooo schwere Kindheit" an mich gerichtet, als durch übertriebene Überspitzung formulierte vorweggenommene Negierung genau dieses Umstandes. Damit auch allen klar ist dass den so nicht sei und ich mich nicht so anstellen solle. Um jegliche Zweifel darüber vollständig wegzulächeln. 

Wir sprechen nicht über die Einordnung in eine fachliche Kategorie, nicht von Trauma oder vergleichbares, höchstens mal am Rande oder sehr viel später im Nachgang. Wenn es dann auch schon gar keine Rolle mehr spielt, für mich sowieso nicht. Das finde ich sehr schön, weil es dadurch alles was hochkommt, egal wie krass oder unwesentlich, gleichermaßen ernsthaft annimmt und Raum gibt. Das hat mich anfangs irritiert, weil das genau der gegenteilige Ansatz ist, wie er oft in der verknappten Auseinandersetzung in sozialen Medien stattfindet. Aber buzzwords klicken halt gut.

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